Der Lübecker Martensmann - der Ursprung eines wieder aufgelebten Brauches
Seit 1991 kommt der Lübecker Martensmann wieder "wie früher" mit einem Fass Wein nach Schwerin. Der
Termin ist das dem 11. November (Martinstag) jeweils am nächsten liegende Wochenende.
Die Zwischenstationen der zwei Reisetage sind Schönberg (Mittagessen) und Rehna (Übernachtung).
Der Lübecker MartensmannEin Schweriner Dokument von 1520 stellt fest, die "Stadt Lubbeke gifft alle jar 1 T. Rinischen must upp Martini,
dar sich de fursten woll werden vordragen." Sich bei einem Glas Traubensaft zu vertragen, ist vielleicht auch
heute keine schlechte Idee für unsere kommunalen Landesfürsten. Inzwischen ist es kein Rheinischer Most mehr, sondern französischer Rotwein, der in Lübeck zu "Rotspon" reift. Der Wein verschwindet auch nicht mehr wie früher im Weinkeller des Mecklenburger Herzogs, sondern gleich ganz "demokratisch" in den Mägen seiner
Untertanen auf dem Schweriner Marktplatz, wie zuvor schon in Schönberg und Rehna.
Wenn 1520 bereits "alle jar" der Brauch durchgeführt worden war, welchen Ursprung sollte er dann gehabt
haben? Die Archiv-Akten in Schwerin und Lübeck belegen um 1755, dass man in beiden Orten diese Frage
aufwarf, ohne sie beantworten zu können. Jahrhunderte zuvor hatte Graf Heinrich von Schwerin den Lübecker
Ratsherren schon mal offiziell lateinisch für den neulich geschickten Wein (pro vino nuper misso) herzlich
gedankt (grates damus multas).
Die politischen Beziehungen waren damals gut. Beide Seiten waren der Herrschaft des Dänenkönigs
Waldemar II. unterworfen. Als Graf Heinrich den König Waldemar dann entführte und zwei Jahre lang
einkerkerte, entlastete er auch Lübeck, an dessen Seite Heinrich dann auch in der Schlacht von Bornhöved
(1227) kämpfte, in der Waldemar besiegt wurde. Aber war das erwähnte Weingeschenk einmalig oder wurde es
zur Regel "alle jar"? Während Heinrich noch "vielen Dank" dazu sagte, bestanden seine landesherrlichen
Nachfolger bald auf Lübecks "Schuldigkeit und Pflicht" zu dieser Lieferung, während Lübeck über die
Jahrhunderte bis heute standhaft darauf beharrt, dies freiwillig "aus nachbarlicher Freundschaft" zu tun.

Es gehörte zum strengen Ritual auf Schweriner Seite, den Wein nur unter Vorbehalt anzunehmen und statt
dessen auf "Most" zu bestehen, also auf frisch gekelterten, aber noch nicht gegorenen Traubensaft, den
Lübeck aber nicht in jedem Jahr liefern konnte. Das Getränk wurde jeweils vom herzoglichen Hof-Kellermeister
kritisch gekostet, bevor das Fass auf jeden Fall im Weinkeller verschwand. Auch die Menge von einem
"Ohm" (145,5 Liter) war genau festgelegt. Heute enthält das Fass 100 Liter, wird aber wegen des erwähnten
"demokratisierten" Durstes unterwegs mehrfach nachgefüllt und erreicht keinen fürstlichen Keller mehr.
Es gehörte früher auch zur strengen "Schuldigkeit und Pflicht", das gesamte Pferdegespann bis hin zum letzten
Hufnagel in einwandfreiem Zustand zu präsentieren. Ergab die Prüfung auch nur den geringsten Mangel,
wurde der Wagen mit dem Pferdegespann von Mecklenburg einbehalten, und der Martensmann konnte
sozusagen mit der Postkutsche nach Hause fahren. Das ist wiederholt passiert. Um das zu vermeiden, ließ der
Martensmann nach zweitägiger beschwerlicher Reise vor seiner Einfahrt durch das Schweriner Mühlentor noch mal das Gespann von einem Schmied der Schweriner Vorstadt oder des Dorfes Lankow genau untersuchen und reparieren.
Bevor der Martensmann, am Schweriner Stadttor bereits militärisch begrüßt, beim Schloss vorfahren konnte,
hatte er unterwegs aus seiner "Geldkatze" für die Stadtarmen und Handwerkslehrlinge Pfennige "auszuwerfen",
um welche dann eine große Balgerei entstand. Dass dabei oft genug sogar der "Penningsmarten" persönlich
bedroht wurde, doch gefälligst noch mehr Geld herauszurücken, erforderte gelegentlich sogar dessen
militärischen Schutz und führte sowohl wegen der frechen "Martini-Jungens" in Schwerin als auch wegen der
"muthwilligen Jugend zu Rehna" zu ernsten Beschwerden der Lübecker Rathsherren.
War erstmal die offizielle Übergabe des Fasses erfolgt, wurde der Martensmann abends um 18 Uhr "mit
Verleuchtung des Amts-Pförtners" und dessen spezieller Laterne von seiner Unterkunft abgeholt und zum
Essen ins Schloss geleitet. In dem eingangs erwähnten Artikel hat Ralf Wendt bereits die unglaublich
umfangreiche Speisekarte aufgelistet. Dabei trank man ausgiebig aus der "Fleute", die unten spitz geformt war,
also in der Hand gehalten werden musste, solange sie nicht leer getrunken war.

Es gehörte im 18. Jahrhundert zur Ausstattung des Speisesaals, "dass ein Bett dorthin gesetzet werde", denn
"es sey eine alte Tradition, dass vorzeiten bey dem Martens-Schmause stark gesoffen wäre, und sey dieses
Bett zwar dahin gesetzet, indessen dürfte doch der Martens-Mann obgleich er noch so sehr betruncken
gewesen wäre, sich nicht darauf niederlegen". Am nächsten Morgen um 9 Uhr folgte das "Frühstück" im
gleichen Umfang und Stil. Zur Ausnüchterung war ja während der zweitägigen Heimfahrt im Novemberwetter
genug Gelegenheit.
Vor seiner Verabschiedung einschließlich kräftiger Wegzehrung wurde der Martensmann mit einem
"Martensgulden" symbolisch bezahlt. Es handelte sich dabei um eine ganz bestimmte Silbermark aus den
1540er-Jahren als hansische Gemeinschaftsmünze der Städte Lübeck, Wismar, Hamburg und Lüneburg, die
schon ein Jahrhundert lang nicht mehr im Umlauf war, als ein herzogliches Dokument von 1758 beklagte, eine
solche Münze sei inzwischen "sehr schwer zu bekommen".
Während der napoleonischen "Franzosentid" konnte der Martensmannbrauch kaum noch durchgeführt werden,
schien sich auch überlebt zu haben, und wurde nach fünfzehnjähriger Verhandlung im April 1817 als beendet
erklärt, nicht ohne dass der Schweriner Herzog dafür die Rechte an der Postlinie Lübeck-Wismar übertragen
bekam, in einem zusätzlichen Geheimartikel garniert mit einer letzten Weinlieferung. Seit 1991 fließt der Wein
wieder, immer noch "aus nachbarlicher Freundschaft", aber inzwischen ohne Herzog, durch die Kehlen der
Bürger(innen). Prost!11